Mischa Gabowitsch (Paris) Juni 2000
Inhalt
I. Fomenko und seine „Neue Chronologie“
Astronomie
Kritik der chronologischen Methoden
Statistik
II Der Zusammenhang
III Schlußbetrachtung
Anhang 1: Bibliographie
Fomenko
Kritik des Fomenkoismus
Scaliger
Die Chronologiekritiker in Deutschland
Andere benützte Quellen
Die Berufsgruppe der russischen Historiker befindet sich in einer tiefen Krise. Materiell gesehen: die Gehälter sind minimal; so wirkt dieser Beruf kaum anziehend auf die junge Generation, deren dynamischere Repräsentanten die Geschäftswelt einer unsicheren Zukunft als Universitätsprofessoren in einem Staat, wo Mangel herrscht, vorziehen. Von der Forschung her gesehen: die marxistisch-leninistische Traditon, seit langem ausgehöhlt und seit einigen Jahren ‚abgeschafft’, sowie ein Mangel an alternativen Vorgaben, da die Versuche der Sechzigerjahre sich nicht als richtige Schulen etablieren konnten, dazu eine Kulturgeschichte, die sich an der Semiotie eines Tartu orientiert und neuerdings der Postmodernismus, der kaum originale Werke hervorbringt, die auf neue Forschung gegründet wären. Diesem allen gliedert sich noch ein allgemein schwaches Wissen der ausländischen Geschichtsarbeiten an sowie eine sehr starke Instrumentalisierung der Geschichte durch sämtliche politischen Diskurse und Zeichensetzungen – zahlreiche Berufshistoriker sind in der Tat zu Soldaten an der Front des Informationskrieges geworden, der zwischen Politikern und ‚Oligarchen’ tobt, wie etwa Gleb Pavlovskij, Direktor der „Vereinigung für eine effektive Politik“ oder Sergeij Dorenko, Nachrichtensprecher des Ersten Programms des staatlichen Fernsehens.
In diesem Umfeld bewegt sich die Aufnahme der Arbeiten von Anatolij Fomenko, Professor für Mathematik an der Staatsuniversität Moskau, und seiner Mitarbeiter, die seit Anfang der 1980er Jahre eine große Anzahl von Arbeiten von eindrucksvollem Umfang veröffentlicht haben; darin schlagen sie eine radikale Erneuerung der chronologischen Ordnung sämtlicher Ereignisse der Weltgeschichte mindestens bis zum 15. Jahrhundert vor, wobei sie sich auf quantitative, hauptsächlich statistische Methoden stützen.
Die vorliegende Arbeit möchte diese Theorien sowie deren Auswirkungen darstellen, wobei der Streit fast gänzlich in Frankreich und Deutschland unbekannt blieb, ausgenommen einiger spezialisierter Rußlandkenner. Sie möchte Beobachtungen von institutioneller Art bieten, die helfen können, diese Auswirkungen zu beurteilen (die man übrigens kaum als Debatte bezeichnen kann) und sie ins Blickfeld rücken.
Dafür empfiehlt es sich, zunächst die Ideen von Fomenko und seiner Gruppe in gewissen Einzelheiten vorzustellen, denn es ist nicht einmal in Russisch leicht, eine Zusammenfassung dieser Ideen aus der Feder eines „Neutralen“ zu finden. In dieser Vorstellung der Methoden Fomenkos bemühe ich mich daher, jeglichen bewertenden Kommentar zu vermeiden.
Daraufhin werden die Antworten auf Fomenko in den verschiedenen Schritten seiner Arbeit untersucht, bevor ich fortschreite zu einer institutionellen Analyse dieses Angriffs auf die etablierte Geschichtsschreibung. Das Beispiel in Deutschland, wo diese Ideen ebenfalls einen sehr begrenzten Erfolg vorweisen, könnte als Kontrast dazu beitragen, die Besonderheiten der russischen Debatte besser zu zeigen.
I. Fomenko und seine „Neue Chronologie“
Fomenko und seine Mitarbeiter (eine kleine Gruppe Moskauer Mathematiker und Physiker) versuchen das, was sie traditonelle oder „scaligerische“ Chronologie nennen, zu zerstören, und zwar durch astronomische Methoden und durch eine Kritik an den radio-nuklearen Methoden. Sie schlagen gleichzeitig eine neue Rekonstruktion des „chronologischen Atlas der Welt“ vor auf der Grundlage einer statistsichen Behandlung der schematisierten historischen Quellen. Ihre Schlußfolgerung ist – verallgemeinert – daß die Weltgeschichte, so wie sie allgemein dargestellt wird, in ihrer Chronologie „vier mal länger“ ist als sie sein sollte, weil jüngere Ereignisse in ältere Epochen versetzt wurden wie mit Pauspapier. So sei die Person Jesu Christi eine „schlechte Kopie“ von Papst Gregor VII Hildebrand, Julius Cäsar sei eine Projektion von Otto III, und so weiter. Das Irrsinnige dieser Folgerungen hat die von der Gruppe „Neue Chronologie“ angewandten Methoden verdunkelt, wie anschließend ausgeführt wird.
Sehr wichtig ist für das Folgende, zu begreifen, daß das Problem nicht darin besteht, die Chronologie als sich wiederholende Perioden aufzufassen, ein Thema, das in allen historisierenden Überlegungen im Frankreich des 20. Jahrhunderts vorkam – es geht Fomenko und seiner Gruppe zum Beispiel nicht darum, ob das Mittelalter im 5. Jahrhundert oder im Jahr 214 beginnt – sondern festzustellen, ob der letzte weströmische Kaiser vor 1500 Jahren oder vor 900 Jahren starb.
I) Astronomie
Der Ausgangspunkt der Untersuchungen Fomenkos war die Frage nach den Werten der Mondbeschleunigung, deren Berechnung sich unter anderen auch auf die Angaben stützte, die im Almagest des Ptolemäus geliefert werden. Fomenko hatte herausgefunden, daß eine starke Anomalie in der Entwicklung dieser Veränderung beseitigt werden könnte, wenn man den Sternkatalog, der allgemein dem 2. Jahrhundert u.Ztr. zugerechnet wird, dem Abschnitt zwischen 600 und 1300 zuteilen würde. Indem er nun systematisch die astronomisch berechneten Angaben über Sonnenfinsternisse mit den durch die Chroniken gelieferten Angaben verglich – seien es Ägypter, Griechen oder Römer – fand er überall Abweichungen heraus (zum Beispiel Beschreibungen von nicht-totalen Finsternissen wo Rückberechnungen eine totale Finsternis ergaben, und umgekehrt), die aber ausgeschaltet werden könnten, wenn man die Daten dieser Chroniktexte änderte, indem man sie in der Zeit „heraufbewegte“ in eine jünger Epoche – und stellenweise auch den Zeitpunkt ihrer Herstellung.
II) Kritik der chronologischen Methoden
Indem Fomenko die von den Historikern angewandten Methoden, die zur Datierung dieser Texte geführt hatten, untersuchte, stieß er auf Scaliger und Petavius, die er, und besonders den ersten, als Gründer des allgemein bis heute verwendeten chronologischen Systems, mit dessen Hilfe man archäologische Funde und geschichtliche Ereignisse datiert, anführt. Auch wenn Fomenko häufig die Titel Opus novum de emendatione temporum von Scaliger (1583) und De doctrina temporum von Petavius (1627) zitiert, ist es doch unwahrscheinlich, daß er diese Texte im Original studiert hat; seine Beurteilung dieser Autoren scheint sich fast ausschließlich auf eine Zusammenfassung zu gründen, die in einem russischen Werk enthalten ist: Die Chronologie der Alten Welt von E. Birkmann (1975).
Dann findet Fomenko eine Reihe von Autoren, die die Datierung früherer Ereignisse kritisch beurteilten – so nennt er die späten Arbeiten von Isaac Newton gleichermaßen wie die kritischen Bemerkungen von Theodor Mommsen über Titus Livius und die römischen Chronisten, und besonders das Lebenswerk von Nikolai Morozov (1854-1946), fachübergreifender Forscher aus der Bewegung der Volkstümlichen Russen (narodniki), der in den 1920er Jahren den Versuch unternahm, die biblische Chronologie zu revidieren und zu zeigen, daß die biblischen Texte in verfälschender Absicht mehrmals dieselbe Serie von Ereignissen beschreiben. Fomenko sieht Morozov als seinen hauptsächlichen Vorläufer an.
In methodologischer Hinsicht besteht die Kritik Fomenkos im wesentlichen in der Annahme, Scaliger habe sich bei seiner systematischen Herstellung der alten Chronologie auf eine wenig kritische Lektüre der traditionellen kirchlichen Texte gestützt, und daß seine Verwendung astronomischer Methoden ihm nur gedient habe, die Wahrheit der aus dieser Tradition entnommenen Daten zu bestätigen statt sie zu untersuchen.
Weiterhin zählt er die Angriffe auf, die gegen die Hilfsmethoden zur Datierung in der Archäologie vorgebracht wurden, besonders der Radiokarbonmethode und der Dendrochronologie. Nach Fomenko liegt der wichtigste Schwachpunkt dieser Methoden darin, daß sie eine vorherige Kalibrierung benötigen, die der „skaligerschen Chronologie“ folgt und damit als Bestätigung des chronologischen Systems in seiner Gesamtheit ausscheidet.
III) Statistik
Überzeugt von der Richtigkeit seiner Kritik bemüht sich Fomenko, eine neue Methode zu erarbeiten, die ein Dokument oder Ereignis chronologisch richtig einordnet. Er findet sie in der Statistik. Um die „skaligersche Chronologie“, wie er sie sieht, in eine quantifizierbare Form umzuwandeln, die statistisch bearbeitbar ist, sammelt Fomenko das, was er „chronologische Weltkarte“ nennt, worin eine Reihe „wesentlicher Ereignisse und Zeitabschnitte“ der europäischen und mittelmeerischen Geschichte zwischen 4000 v.Chr. und 1800 n.Chr. liegen, entsprechend ihrer Beschreibung in einer Auswahl von allgemeinen Geschichtswerken der entsprechenden Gegenden und Zeiträume.
Eine solche Karte zeigt nun zum Beispiel als chronologische Parallelen die Herrschaftsdaten westgotischer Fürsten, byzantinischer Kaiser und römischer Päpste; Fomenko glaubt auf diese Weise den Idealtyp des Geschichtsnachschlagewerks geschaffen zu haben.
Auf diese riesige Karte wendet er nun seine statsitische Methode an, nämlich die Zählung der Namen und Ereignisse und ihren graphischen Niederschlag. Das Ergebnis scheint mit astronomischen Berechnungen zusammenzufallen: Die Schematisierung dieser Graphiken zeigt vier Abschnitte, jeweils um mehrere Jahrhunderte verschoben, in denen die Graphiken jeder der ausgewählten Regionen sich formmäßig mehr oder weniger wiederholen. (Anhang 2 zeigt zwei Arten, wie Fomenko und seine Mitarbeiter ihre Ergebnisse vorbringen; die in jenen Abschnitten erwähnten Namen sind weniger wichtig als die dem Arbeitsgang innewohnende Logik, gut erkennbar durch die angedeuteten Paralleln, die etwas chaotisch in den beiden Schemata auftreten.)
Indem nun Fomenko diese vier Abschnitte einander gegenüberstellt, findet er überall Parallelen in den Einzelheiten der Lebensläufe und Ereignisse, die das Material der Quantifizierung enthält. Diese Parallelen und ihre Auswertung sind es, die die Hauptsache der von der Fomenko-Gruppe hervorgebrachten Arbeit ausmachen; hier dazu ein Beispiel (die Zahlen in Klammern entsprechen „der der jeweiligen Herrschaftsdauer“):
„Die Karolinger und das Römische Reich im III-IV Jh. n.Chr. Tafel 1
Mittelalter Antike
Die Karolinger, das Reich Karls d.Gr. im VII-IX JH. Verschiebung um 360 Jahre (...) Fragment des 3. Röm. Reiches des III-IV Jh. (Hauptsächlich Herrscher des Ostreiches)
1. Pipin von Géristal 681-714 (33) 1. Constantius II 324-361 (37)
2. Karl Martell 721-741 (20) 2. Theodosius I 379-395 (16)
3. Pipin d. Kurze 754-768 (14) 3. Arcadius 395-408 (13)
4. Karl d.Gr. 768-814 (46) 4. Theodosius II 498-540 (42)
5. Karl d.Gr. 768-771 oder 772 (3 oder 4) 5. Constantin III 407-411 (4)
Die berühmte Karlsche Schenkung (774) gibt italienisches Gebiet dem Papst Die berühmte konstantinische Schenkung (im IV Jh.) gibt Rom dem Papst
[…] […]
zitiert nach: (Kritika tradicionnoj hronologii…, p. 77)
Die letzten Eintragungen zeigen eine der Regeln der Quantifizierungsweise Fomenkos: Die Erwähnung ein und der derselben Persönlichkeit unter verschiedenen Namen werden getrennt behandelt.
Fomenko glaubt, daß diese „Paralellen“ das Zeichen einer systematischen „Abhängigkeit“ zwischen den vier behandelten Zeitabschnitten sind, ein Beweis dafür, daß die älteren drei Abschnitte verderbte Projektionen des vierten sind.
Er versucht auch, diese Hypthesen zu beweisen mittels einer Reihe von anderen statistischen Methoden – besonders dem „Prinzip des Verhältnisses der Anhäufung“ – indem er die Seiten zählt, die einem gewissen Jahr in der Geschichtsschreibung gewidmet sind. Wenn die „örtlichen Maxima“ sich in zwei Zeitabschnitten wiederholen, d.h. wenn der Seitenumfang sich in gleicher Weise entwickelt, z.B. zwischen Jahren 0 und 100 wie zwischen 1053 und 1153, dann liegt laut Fomenko eine starke Wahrscheinlichkeit vor, daß die Texte, die diesen Graphiken zugrundeliegen, voneinander abhängig sind und sich demnach auf eine einzige Wirklichkeit beziehen, die im Zeitlauf künstlich verdoppelt wurde.
Um dieses Phänomen zu erklären, schlägt Fomenko vor, Scaliger und die ihm vorangegangene Generation von ‚Chronologen’ habe bei der Vereinheitlichung der verschiedenen Kalender, die in den Quellen benützt wurden, sich systematisch geirrt und Dokumente in verschiedene Zeitabschnitte eingeordnet, die – obgleich in leicht verschiedener Sprache abgefaßt – ein und dieselbe Epoche beschrieben hätten. Die Renaissance, die Fomenko bizarrerweise im XI. Jh. beginnen läßt, wäre demnach keine Epoche der Wiederentdeckung der antiken Kultur gewesen, sondern tatsächlich die Zeit der Herstellung der meisten Texte, die später als antik aufgefaßt wurden.
Um diesem Entwurf mehr Gewicht zu verleihen, entwickelt die Fomenko-Gruppe einen ganzen Haufen von Hypothesen betreff der möglichen Irrtümer, die zu einer falschen Deutung dieser oder jener Quelle geführt haben könnten: schlechte Vokalisierung nichtvokalisierter Texte, Nichtbeachtung rhetorischer und religiöser Varianten bei der Beschreibung derselben Persönlichkeit, usw. Die Hypothese einer bewußten Fälschung oder Herstellung falscher ‚antiker’ oder ‚mittelalterlicher’ Dokumente durch die ‚Chronologen’ wird jedoch systematisch ausgeschlossen; für Fomenko und seine Mitarbeiter handelt es sich tatsächlich um eine ‚Sünde’ seitens Scaligers, aber nicht aus schlechter Absicht sondern eher aus Unkenntnis.
Fomenko betont mehrfach, daß er seine Methoden astronomischer Berechnung und statistischer Behandlung der Texte als den Kern seiner Arbeit ansieht, wogegen die Rekonstruktion „alternativer Chronologien“ nur den Status von Hypothesen haben. Es sind jedoch gerade diese Hypothesen, die in einer systematisch romanhaften Form den größten Erfolg im Buchhandel hatten. In dieser Reihe seiner großen Bände sind Fomenko und seine Mitarbeiter zu einer immer radikaleren Rekonstruktion der Weltgeschichte bis zum 16. Jh. gelangt (stets als reine Revision der „scaligerschen Chronologie“ dargestellt). Um einige Beispiele zu geben: Das 14. Jh. sah tatsächlich den Aufstieg eines riesigen Reiches mit Mittelpunkt in Moskau unter Einbeziehung der osmanischen und mongolischen Reiche und großer Teile Europas (oder eher: sie zeitgleich repräsentierend). Erst nach Aufteilung dieses Reiches haben die neuen Herrscher des ‚kleinen’ Rußland, die Romanofs, eine neue Version der Geschichte festgelegt, die der Legitimierung ihrer Dynastie diente, wobei das gemeinsame Erbe umgewandelt wurde, das im übrigen sich über Europa verbreitet habe in einer Vielzahl von Mythen und Legenden, da nur wenige exakte Chroniken bis zum 15. Jh. vorlagen. Mehr noch, die gesamte chronologische Abfolge in China sei ein äußerst spätes Muster, an die aus Europa eingeführte „scaligersche Chronologie“ anschließend nach den ersten Kontakten mit den jesuitischen Missionaren, denn China besaß nur dynastische Chroniken, die untereinander nicht verbunden waren, und die nach dem für Europa schon gezeigten Vorbild in verschiedene chronologische Schichten „hineinkopiert“ worden seien.
Überflüssig, weitere Einzelheiten dieser monströsen „Rekonstruktionen“ hier vorzustellen; bliebe anzufügen daß die Argumentationsweise in diesen Werken im wesentlichen von der von Fomenko erfundenen statistsichen Methode besteht, deren Ergebnisse schon als erworbene Grundlage betrachtet werden; dabei kommen begriffliche Analogien zustande nach der Art „AFRIKA = THRAKIEN“ (russisch AFRIKA = FRAKIYA) oder ASIA = AS-LAND = SKANDINAVIA“ . Die große Mehrzahl der Arbeiten, die so „analysiert“ werden, stammen offensichtlich aus russischer Übersetzung und nicht aus den originalen Chroniken oder betrachteter Zusammenfassungen.
II. Der Zusammenhang
Die Frechheit dieser „Chronologiekritik“ mag offenkundig sein; hier ist sicher nicht der Ort für eine detaillierte Kritik der vielzähligen Schriften Fomenkos. Was dagegen viel interessanter zu studieren wäre, ist die Entwicklung der Debatte um diese Werke in Rußland, und der Bedingungen, die den Aufstieg der Theorien Fomenkos begünstigt haben.
Abgesehen von einer recht eingehenden und vernünftigen Kritik, die 1981 in einem Fachblatt über antike Geschichte erschien (die ich nachher näher betrachten werde), hat sich die hauptsächliche Debatte in den 1990er Jahren in der Presse abgespielt, nachdem mehrere vielseitige Bände die Ideen Fomenkos popularisiert hatten. Fast alle veröffentlichten Erwiderungen, ausgenommen einer kleinen Zahl von positiven aber harmlosen Beurteilungen, sind in einem emotional aufgeheizten Stil verfaßt und beziehen sich häufig nur auf einen kleinen Aspekt der „Methode“ oder häufiger auf die „Ergebnisse“ der Gruppe um Fomenko. Sogar die Beiträge von Historikern enthalten häufig nur verulkende Bemerkungen und manchmal persönliche Angriffe bis hin zur Anschuldigung des “Faschismus“. Einige Versuche wurden unternommen, gewisse Ansichten des „methodischen Apparates“ der Gruppe zu kritisieren, sie waren jedoch sehr begrenzt und stückweise.
All das ist verständlich. Jeder Historiker, der sich seiner Methoden sicher ist, müßte eine Beschäftigung mit den Ideen von Fomenko als Zeitverlust ansehen; allerdings würde die große Volkstümlichkeit und die stetig wachsende Menge der Werke Fomenkos und seiner Schüler eine spezialisiertere Reaktion erfordern.
Einerseits erlaubt die praktisch vorherrschende Meinung von Fomenko in der Diskussion (mittels der in Buchläden stets vorhandenen Werke, im Gegensatz zu den meisten Presseartikeln seiner Gegner) ihm, von den „Historikern“ eine Verteidigung der „scaligerschen Chronologie“ zu verlangen und alle Antworten zu übergehen, die seiner Meinung nach nicht den mathematischen Apparat seiner Kritik berühren – Begriffe, die schon von seinen Gegnern, selbst den feindlichsten, aufgegriffen wurden.
Andererseits behandeln die Kritiken an Fomenko kaum, daß die fomenkoschen Angriffe, oder eher noch das Phänomen, das sie ausmachen, eine tatsächliche Verachtung der historischen Wissenschaft bedeuten, wie sie im postkommunistischen Rußland Schwierigkeiten hat, ihre Rolle neu zu definieren. Die Überheblichkeit der akademischen Geschichtswissenschaft, die kaum ein gesellschaftliches Phänomen analysieren kann, das nicht ernstgenommen wird, erlaubt Fomenko, sich als Erneuerer der Wissenschaft zu produzieren, der eine alte Generation von bornierten Historikern, die sich dem interdisziplinären Dialog verschließen, verachtet. (Hervorzuheben ist, daß Fomenko ehrlich davon überzeugt ist, daß seine Theorien mathematische ‚neutrale’ Hypothesen wiedergeben, die kein politisches Gewicht haben).
Bevor ich darauf eingehe und auf die Lehren, die sich aus der Affäre Fomenko ableiten lassen, möchte ich zuerst diejenige Seite dieser Affäre betrachten, die mir am wichtigsten erscheint, nämlich die Bedingungen – instituioneller oder intellektueller Art – die in den 1990er Jahren den Erfolg des „Fomenkoismus“ ermöglicht haben.
Weit überraschender als die allgmein schwache Antwort auf Fomenko seitens der Historiker ist der Erfolg, dessen sich diese Theorien in der russischen ‚Öffentlichkeit’ erfreut haben und immer noch erfreuen, nämlich unter der immer kleiner werdenden Zahl von Nutznießern des Buchmarktes, der gegenüber der sowjetischen Produktion stark geschrumpft ist. Dieser Erfolg, so begrenzt er sein mag, ist um so auffälliger im Vergleich zu Deutschland, wo ebenfalls eine Schule von Chronologiekritikern existiert – schon länger und besser organisiert und dennoch weniger akzeptiert oder überhaupt nur von der akademischen Geschichtsforschung beachtet. Der Hinweis auf eine Periode der Krise oder des ‚Übergangs’ im geistigen Leben der Russen scheint offensichtlich; das Phänomen ist jedoch vielfältiger und verdient eine Untersuchung, um eine eventuelle Interpretation in Begriffen wie „russische“ oder „orientalische Wissenschaft“ nicht aufkommen zu lassen, wie sie unter Rußlandexperten in zahlreichen Ländern wie auch Dissidenten in Rußland selbst üblich geworden ist. Das andere Extrem – einer solchen kulturellen Interpretation entgegengesetzt oder radikal fremdbestimmt, wie Geschichtswissenschaftler es nennen würden – wäre, den ‚Fomenkoismus’ in den Zusammenhang einer weltweiten Tendenz der Quantifizierung der Humanwissenschaften zu stellen, die gleichermaßen zerstörerische Ergebnisse in der Politikwissenschaft der Vereinigten Staaten wie in der Geschichtswissenschaft in Rußland herv